Wer vom Kapitalismus nicht spricht, muss über Fluchtursachen schweigen

Die Flüchtlinge, die grade nach Europa kommen, kommen aufgrund der wirtschaftlichen Ausbeutung des globalisierten Südens durch Europa zu uns. Sie fliehen vor uns – zu uns.

Gegen TTIP. Gegen CETA. Gegen Freihandel. All das klingt furchtbar. Furchtbar negativ, und furchtbar destruktiv. Keine Frage! Doch mal ehrlich: Sind wir gegen Freihandel? Sind wir gegen offene Grenzen? Sind wir gegen wirtschaftliche Prosperität? Nein, das sind wir selbstverständlich nicht.


Denn Freiheit, Offenheit und wirtschaftlicher Wohlstand sind auch in unserem Interesse, ja im Interesse aller. Mein Blick auf diese Themen allerdings ist der eines betroffenen Menschen, nicht etwa der von Konzernen. Deshalb sind wir gegen die Ausgestaltung dieser drei Punkte in ihrer gegenwärtigen und geplanten Form. Und wir sind gegen die Art und Weise, wie diese
Freihandelsabkommen verhandelt werden: Unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit und der
Parlamentarier, dafür jedoch unter Beteiligung der multinationalen Konzerne. So kann es nicht laufen, und so findet TTIP niemals Akzeptanz bei denen, die es betrifft: nämlich bei uns!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Wir wollen mitgestalten, mitsprechen und mitentscheiden,
wie unser Leben und das Leben unserer Kinder in der Zukunft aussieht. Wir wollen keine dauerhafte Entmachtung der Parlamente durch Verträge wie TTIP und CETA. Wir wollen als Souverän unsere demokratischen Mitbestimmungsrechte behalten und ausbauen. Daher lautet die erste Forderung: Die Intensivierung der Zusammenarbeit aller Länder muss sich immer nach den besten Sozial-, Umwelt- und Arbeitsstandards richten, und nicht etwa nach den niedrigsten. Und: Nach fairen demokratischen Spielregeln muss sie sich auch richten!
Die Verhandlungen dürfen sich nicht an den Konzerngewinnen orientieren, sondern am Gewinn von
Lebensqualität der Menschen weltweit. Konkret bedeutet dies: Die Unternehmen müssen sich an
den höchsten Sozial-, Umwelt- und Arbeitsstandards orientieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben! Also genau das Gegenteil von heute und dem, was mit den Freihandelsverträgen zu erwarten ist. Darauf müssten diese Abkommen abzielen.

Gewerkschaftliche Mitbestimmung ist dabei keine Nebensächlichkeit, sondern selbstverständlich!
Die zweite Forderung lautet: Offenlegung aller Vertragstexte von Anfang an. Transparenz der
Verhandlungen. Konkret müsste das heißen, dass nicht nur die Verhandlungspositionen offengelegt werden, sondern auch die Methodik der Verhandlungsführung.
Das beinhaltet auch, dass es eine öffentliche Liste derjenigen gibt, die an den Verhandlungen beteiligt sind. Die gleichberechtigte Teilhabe aller Interessensgruppen muss gewährleistet sein.
Damit wären die Verhandlungen im gegenwärtigen Format bereits beendet. Denn wie jeder weiß, sind sie auf eine Elite beschränkt. Es darf, wenn es denn wirklich um eine Verbesserung der Welthandelssituation gehen sollte, aber nicht um eine Fortsetzung der TTIP Verhandlungen mit
verbesserter Besetzung gehen, es müsste vielmehr von vorn begonnen werden.
Dadurch könnte sich jeder über die verhandelten Inhalte informieren. Und die gewählten Volksvertreter wüssten auch, worüber sie zu entscheiden haben. Darüber hinaus würde es bedeuten, dass jeder Versuch, Sozial-, Umwelt und Arbeitsstandards zu drücken, sofort bekannt würde.
Das hieße aber auch, dass unternehmerischer Erfolg nicht mehr darauf beruhen kann, besonders gewieft die eigenen Mitarbeiter und die Umwelt auszubeuten, sondern darauf, gute Produkte herzustellen, die in jeder Hinsicht nachhaltig sind.


Liebe Freihandelsskeptikerinnen und Freihandelsskeptiker, Ich frage mich aber grundsätzlich: Ist es überhaupt sinnvoll und erstrebenswert, dass alle Produkte in sämtlichen Regionen der Erde vermarktet werden? Gabriel hat einmal die Vorzüge von TTIP gepriesen und hervorgehoben, dass
dank TTIP die Allgäuer Molkereien ihre Produkte in den USA verkaufen können. Toll! Was für eine Errungenschaft!
Was hat der Amerikaner davon, Allgäuer Joghurt zu kaufen? Und was hat der Allgäuer davon, künftig
amerikanischen Joghurt in seinem Kühlregal zu finden? Gabriel, Merkel und Gauck würden mir jetzt wohl antworten: Das ist Freiheit!

Liebe Freihandelsskeptikerinnen und Freihandelsskeptiker, Auf diese Freiheit kann ich gut verzichten. Ich finde es besser, wenn stattdessen weniger Transportverkehr auf den Straßen, in der Luft und zu Wasser stattfinden würde. Die Kosten für Umweltverschmutzung, Verkehrstote und hohe Energiepreise zahlt nämlich die Allgemeinheit. Eine schöne Freiheit, die uns das Leben in unseren Städten und Dörfern vermiest.
Auf diese Freiheit kann ich auch gut verzichten, wenn dafür die Bauern für ihre Milch und andere Lebensmittel anständig bezahlt werden.
Auf diese Freiheit kann ich erst recht verzichten, wenn die Beschäftigten beiderseits des Atlantiks in den Betrieben guten Lohn und gute Arbeitsbedingungen vorfinden. All dies aber ist in den gerade verhandelten Freihandelsabkommen nicht vorgesehen. Daher muss man sie ablehnen. Wir sind für einen anderen Freihandel!

Daher lautet unsere dritte Forderung, dass wir einen Freihandel wollen, der die Ausbeutung der Arbeiterinnen beendet. Der nachhaltig ist und die Umweltzerstörung beendet.Einen Freihandel, der Menschen vor schlechten Arbeitsbedingungen schützt und betriebliche Mitbestimmung fördert. Weltweit! Vielleicht sollte man diesen Freihandel Fairhandel nennen.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Was erleben wir aber derzeit – nicht zuletzt auch durch
Freihandelsabkommen? Die massenhafte Flucht von Menschen aus Afrika und anderen Regionen der Welt. Neben Kriegen - mit all ihren schrecklichen Folgen - sind vor allem Hunger und Durst, Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit die Gründe dafür, weshalb sich Menschen auf den Weg zu uns, nach Europa, machen. Im CSU-Jargon sind das „Wirtschaftsflüchtlinge“. Und damit sind wir nicht für sie „zuständig“.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich sage: Diese Menschen fliehen vor den Katastrophen, die unsere Wirtschaftsordnung in deren Heimat mitzuverantworten hat! Ich denke z.B. an den Sturz des iranischen Premierministers Mohammad Mossadegh 1953 nach der Verstaatlichung der iranischen Ölvorkommen, ich denke an die Kriege für Öl 1992 und 2003 im Irak, ich denke an die Intervention in Syrien an der Seite sogenannter „gemäßigter“ Rebellen, aber auch an Mali und die Interventionen Frankreichs dort. Aber auch scheinbar harmlose Dinge wie die Privatisierungen des Trinkwassers in vielen
Entwicklungsländern haben schlimme Folgen für die Menschen dort: Viele können sich das Trinkwasser nicht mehr leisten. Sie müssen dafür schmutziges verwenden und in der Folge sterben Menschen an vermeidbaren Krankheiten, darunter viele Säuglinge, deren Babynahrung durch das Wasser verschmutzt wird und voller Keime ist.
Diese Beispiele zeigen aufs deutlichste, dass die westliche Wertegemeinschaft vor allem die Werte der westlichen Konzerne durchsetzt und weniger die allgemeinen Menschenrechte, die ja jedem zustehen – zumindest theoretisch. Sie zeigen aber auch, dass liberalisierter Freihandel zu ernsten Problemen für die Menschen des globalisierten Südens führt, wenn er vor allem das Gewinnstreben einiger weniger im Sinn hat.
Die Analysen, die die Fluchtursachen nur in den Kriegen sehen, lassen die krisenauslösende und –verschärfende Wirtschafts- und Handelspolitik der EU und anderer Staaten unter den Tisch fallen. Freihandelsabkommen (u.a. EPA) wurden afrikanischen Ländern aufgezwungen – mit verheerenden Folgen für sie: Die Abkommen erlauben es den europäischen multinationalen Konzernen, mit ihren
Produkten die Märkte vieler afrikanischer Länder zu erobern. Mithilfe von Dumping-Strategien – mitermöglicht durch EU-Subventionen - zerstören sie dabei die dort vorhandene kleinteilig strukturierte Landwirtschaft und Produktion. Dies ist im globalisierten Süden besonders schlimm, weil dort besonders viele Menschen direkt abhängig von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft sind. Durch diese wirtschaftliche Zerstörungsstrategie wird in vielen Ländern Afrikas massiv Arbeitslosigkeit produziert.
Auch werden die von kleinteiliger (Land)wirtschaft geprägten örtlichen Strukturen zerstört, mit Folgen für Gesellschaft (Stichwort: Geschlechterrollen, Gesundheit, Tradition, Kultur, Soziales), Umwelt (Stichwort: Klima, Böden, Wasser, Biodiversität) und Wirtschaft (Stichwort Einkommen, Vermarktung, Handel). Wir verursachen dort also nicht nur ökonomische, sondern auch gesellschaftliche und ökologische Desaster.
Ein weiterer Grund für Armut und Hunger ist das sogenannte „Land Grabbing“. Vergleicht man die Weltkarte der Unternährung mit der Karte der Länder, in denen am meisten fruchtbarer Ackerboden von multinationalen Konzernen aufgekauft wurde, dann fällt auf: Sehr häufig leben die hungernden und unterernährten Menschen in genau den Ländern, in denen am meisten fruchtbares
Ackerland verkauft wurde. Meist von korrupten Eliten, die mit wohlwollender Tolerierung durch den Westen ihr Land im Würgegriff halten.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Ist es wirklich so verwunderlich, dass die Menschen, denen
unsere transnationalen Konzerne die Ackerflächen wegnehmen, um dort Pflanzen für z.B Biosprit anzubauen, nun mit leeren Mägen zu uns kommen? Sind das „Wirtschaftsflüchtlinge“? Oder sind das nicht vielmehr Wirtschafts“ORDNUNGS“-Flüchtlinge? Sie fliehen vor uns - zu uns!

Ein weiteres Beispiel ist der Kauf der Fischereirechte durch die EU in westafrikanischen Gewässern. Dadurch verlieren die einheimischen Fischer ihre Lebensgrundlage und in Folge dessen wird die ganze gesellschaftliche und ökonomische Infrastruktur in diesen Ländern deutlich geschwächt bzw. zerstört. Bricht der Fischfang weg, fällt die lokale Fischwirtschaft in sich zusammen und alle damit
zusammenhängenden Arbeitsplätze gehen verloren. Statt Arbeit und Lohn gibt es dann Hunger und
Perspektivlosigkeit. Wer will es diesen Menschen verdenken, wenn sie dahin gehen, wo sie hoffen, dass es ihnen besser geht, dorthin, wo auch ihr Fisch hingeht?
Liebe Freihandelskritikerinnen und Freihandelskritiker, Die Europäische Union beschwört immer ihre vier
Freizügigkeiten: Die Freizügigkeit des Warenverkehrs, des Dienstleistungsverkehrs, des Kapitalverkehrs und des Personenverkehrs.
Wie wir in Anbetracht der Flüchtlingskrise und der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU aber sehen können, ist dies eine Farce. Die Freizügigkeit für Personen gilt nur für wohlhabende Personen. Und genau das gleiche Prinzip tragen auch die geplanten Freihandelsabkommen, ja alle Freihandelsabkommen in sich: Freiheit für Waren-, Dienstleistungen und das Kapital - für Menschen aber nur, wenn sie ausreichend Kapital haben. Die Verdammten dieser Erde werden mit jedem
Freihandelsabkommen, wie sie momentan in der Mache sind, zahlreicher. Denn das Ergebnis eines jeden dieser Abkommen ist es, die Produktionskosten für die Kapitaleigner zu senken, um so ihre Gewinne zu erhöhen. Dies geht am besten über die Senkung von Arbeitslöhnen und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, sowie über die Absenkung gesetzlicher Standards in den Bereichen Ökologie und Sozialstaat.
In diese Richtung geht die Entwicklung. Und allzu oft kämpfen auch die Gewerkschaften nur noch
Rückzugsgefechte. Man sehe sich nur den Anstieg der Zahl der Menschen an, die selbst in einer der reichsten Nationen der Welt trotz Vollzeitstelle noch auf Zuschüsse vom Staat angewiesen
sind – die sogenannten „Aufstocker“. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in Deutschland steigt seit Jahren, gleichzeitig aber auch der Anteil der Sozialausgaben am Staatshaushalt. Woran liegt das? Das liegt daran, dass mittlerweile häufig selbst eine Vollzeitstelle
nicht mehr zum Leben reicht!
Und die Rente von vielen Menschen schon gleich gar nicht mehr – immer mehr sind auf die „Grusi“ angewiesen. „Grusi“ steht nicht für „gruselig“, sondern für „Grundsicherung“, die der Staat jenen zahlt, die von der eigenen Rente nicht leben können! 2030, also in 14 Jahren, wird die Hälfte aller Rentner auf dieses staatliche Minimum zurückgeworfen sein.

Liebe Freihandelskritikerinnen, TTIP, CETA, TiSA usw. usf. sind nichts anderes als weitere Schritte in diese Richtung: Reichtumsumverteilung von unten nach oben und die Verlagerung der politischen
Mitsprache in die Konzernzentralen dieser Welt. Wir brauchen also die internationale Solidarität aller
Menschen, um gemeinsam gegen diese Anmaßung der von uns gewählten Politiker und der Industrie- und Bankenlobby anzukämpfen. Deren Interessen sind der Untergang eines demokratischen Umgangs der Menschen und Staaten miteinander. Im Kampf um die höchste Rendite ist die Demokratie eines der letzten Hindernisse.
Solidarität dagegen, Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker – in Anbetracht von knapp 800 Millionen unterernährten Menschen weltweit, von 65 Millionen Flüchtlingen weltweit, und jährlich 3,1 Millionen Kindern unter 5 Jahren die verhungern. Man sich bewusst machen: alle zehn Sekunden verhungert ein Kind unter fünf Jahren. In Anbetracht dieser Zahlen muss man eingestehen: der liberalisierte Welthandel wie wir ihn seit ca. 25 Jahren kennen, ist Teil des Problems und nicht seine Lösung.

Liebe Freihandelskritikerinnen, der sich nun noch beschleunigende Freihandel verschärft diese Tragödie aufs Neue und weitet sie aus, auf große Teile der Bevölkerungen – diesmal auch in reichen OECD Ländern, die bisher von Armut größtenteils verschont sind. Die bisherige Politik hat versagt, und ihre Fortführung mit schärferen Mitteln wird zu einem noch größeren Versagen führen.
Es ist Zeit, den Menschen die Bodenschätze und die Früchte ihrer Länder und Küsten zurückzugeben. Es ist Zeit, die Konzerne im globalisierten Süden – und natürlich auch bei uns – in ihre Schranken zu weisen. Es ist Zeit, den Ländern im globalisierten Süden ihre Schulden zu erlassen. Das wären entscheidender Schritte dazu, Fluchtursachen langfristig zu beseitigen und eine gerechte Weltordnung einzurichten.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Dies wäre der Anfang einer Rückkehr zur Solidarität! In diesem Sinne: Lasst uns gemeinsam gegen den existierenden und geplanten sogenannten Freihandel kämpfen. Und lasst uns für einen „Freihandel“ im oben beschriebenen Sinne kämpfen, einen Freihandel, der den Menschen überall zu Gute kommt: eben einen echten Fairhandel!

Dr. Tobias Bevc, Rede am 11. Mai 2016 auf der Veranstaltung der Innitiative gegen TTIP in Mühldorf am Inn.